Last update: 06.07.2004 13:00

 

Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht;
der Gebildete will empfinden;
und Nachdenken ist nur dem ganz Ausgebildeten angenehm.

J.W. v. G.

 

Klassische Varianten der Maxwell-Gleichungen

Gerhard W. Bruhn, Technische Universität Darmstadt

Bereits J.C. Maxwells erste Veröffentlichungen seiner "Maxwell-Gleichungen" von 1865 enthielt in der Darstellung der elektrischen Feldstärke einen Zusatzterm v×B mit einer Geschwindigkeit v, mit der Maxwell das Phänomen des Unipolarinduktors modellieren wollte, s. [9; Abschnitt 1 (D) und Abschnitt 3 (B)] (v war die Geschwindigkeit des Schlittens.): Er setzte

(1)           E = Eo + v×B

mit der uns wohlbekannten Potentialdarstellung

(2)           Eo = − A/∂t − grad ψ .

((1) und (2) noch nicht - wie heute üblich - getrennt geschrieben.) Maxwell wollte hiermit, wie man einige Jahrzehnte später gesagt hätte, eine "Elektrodynamik bewegter Körper" begründen.

Später (ca. 1890) lernte man durch H.A. Lorentz in (1) die für eine bewegte Ladung wirksame Feldstärke kennen, die sich mit der Geschwindigkeit v durch ein elektromagnetisches Feld (E, B) im Laborsystem S bewegt. Während eine in S ruhende Ladung nur das elektrische Feld E "bemerkt", wirkt auf die bewegte Ladung noch das elektrische Zusatzfeld v×B. Diese Tatsache wurde experimentell an Ionenstrahlen bestätigt (W. Wien 1914).

Man kann diesen Sachverhalt auch aus der Sicht der bewegten Ladung, also in einem bewegten Bezugssystem S', beschreiben, in dem die Ladung ruht. Eine Ladung Q der Masse M genügt einerseits in S der Bewegungsgleichung
                    M d²x/dt² = Q (E + v×B) ,
andererseits gilt in S' die Bewegungsgleichung
                    M d²x'/dt'² = Q E' .
Weil aber für Galilei-Transformationen Beschleunigungen in S und S' den gleichen Wert haben, d²x/dt² = d²x'/dt'², folgt durch Vergleich der Bewegungsgleichungen in S und S'

(3)           E' = E + v×B .

Das bedeutet: Wenn in dem Laborsystem S die Felder (E, B) beobachtet werden, wirkt in S' (auf die dort ruhende Ladung) die elektrische Feldstärke E' = E + v×B .

Die Transformationsgleichung für das elektrische Feld hat ein magnetisches Analogon, das von C. Röntgen 1888 entdeckt und ausführlich von A. Eichenwald (1903) untersucht und bestätigt wurde:

(4)           H' = Hv×D .

Es ist hier anzumerken, dass die Transformationsgleichungen (3-4) nur für nichtrelativistisches v gültig sind. Für relativistisches v transformieren sich Longitudinal- und Transversal-Komponenten unterschiedlich: Die Transversal-Komponenten weisen einen zusätzlichen relativistischen Faktor auf [3; Teil IV].

H. Hertz unternahm 1890/1894, noch in Unkenntnis der oben wiedergegebenen Feld-Transformationsgleichungen (3-4) zwischen bewegten Inertialsystemen, den Versuch der Entwicklung einer "Elektrodynamik für bewegte Körper". Er schlug als Verallgemeinerung der Ruhe-Maxwell-Gleichungen die Gleichungen

(5)           rot H = J + dD/dt ,
(6)           rot E = − dB/dt ,
(7)           div D = ρ ,
(8)           div B = 0 ,

vor, indem er die aus der Galilei-Transformation

(9)           x' = xvt ,
(10)         t' = t ,

resultierenden Transformationsregeln für Ableitungen

(11)           Nabla' = Nabla,           /∂t' = d/dt = /∂t + v · Nabla

benutzte. Dieser Versuch musste allerdings fehlschlagen, weil H. Hertz die damals noch unbekannten Transformationsgleichungen (3-4) nicht zur Verfügung hatte, so dass die erforderliche Mittransformation der Felder unterblieb.

Aber auch heutzutage, ein Jahrhundert später, echot das - damals aus dem Kenntnisstand begründete und historisch verständliche - Unvermögen noch durch das Internet. So berichtet A. Waser [7; S.7] von einer Arbeit des Autors Th. Phipps [8], der die Hertzschen Grundgleichungen wiederentdeckt und herausgestellt habe. Dabei wird darauf verwiesen, dass auf diese Weise eine invariante Form der Maxwell-Gleichungen gewonnen sei: Ein Denkfehler heutzutage! Denn uns sollte inzwischen allgemein bekannt sein, dass auch unter Galilei-Transformationen die Feldgrößen (E, H, D, B) gemäß der Transformationsgleichungen (3-4) mittransformiert werden müssen, wodurch dann von einer Invarianz der Hertzschen Grundgleichungen nicht mehr die Rede sein kann.

Um es noch einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen:
Die Hertzschen Grundgleichungen (5-8), (11) sind durch die Erkenntnisse von H.A. Lorentz, C. Röntgen und A. Eichenwald trotz ihres berühmten Autors seit etwa hundert Jahren überholt.

Kein Hindernis für einen Autor unserer Tage: Für den Fall nichtrelativistisch bewegter Körper gibt er ohne Quellenangabe "erweiterte Maxwell-Gleichungen" an, die mit den Hertzschen Grundgleichungen (5-8), (11) identisch sind.

In der Literatur sind Äußerungen zu den Hertzschen Grundgleichungen eher spärlich: A. Sommerfeld schreibt 1948 am Anfang des Kapitels "Die Maxwellsche Theorie für bewegte Körper ..." ([3; Teil IV]):
"Die Erweiterung der Maxwellschen Theorie von ruhenden auf bewegte Medien war ein viel umworbenes Problem der älteren Elektrodynamik. HEINRICH HERTZ war daran gescheitert (vgl. [6]), da er sich konsequent auf den Boden der klassischen Theorie (der "GALILEI-Transformation") stellte. ..."

Und bei E. Schmutzer [5; S.567] heißt es:
"Am Ende des vorigen <19.> Jahrhunderts wurde der Frage nach den elektromagnetischen Grundgesetzen in bewegten Medien große Aufmerksamkeit gewidmet. Es entstand eine umfangreiche Literatur, weil man glaubte, das inzwischen angesammelte, widersprüchlich erscheinende empirische Material mit den ursprünglichen Maxwell-Gleichungen nicht mehr beschreiben zu können. Der wohl bekannteste Versuch stammt von H. HERTZ (1890), ..."
<Es folgen die Hertzschen Grundgleichungen in geringfügig allgemeinerer Form als hier in (5-8), (11) angegeben.>
"... Klarheit und Ordnung in die sehr widerspruchsvolle und verwickelte Situation brachte schließlich EINSTEIN durch seine geniale Arbeit "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" ..."
s. dazu [1], [2], [3; Teil IV] und [4; Nr. 7.1.7 S.1084], und den abschließenden Original-Beitrag von H. Minkowski [10].

Literatur

[1]           A. Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper; Annalen der Physik und Chemie, Jg. 17, 1905, S. 891–921,          

[2]           Wikibooks: Kommentar und Erläuterungen zu A. Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Teil I u. II

[3]           A. Sommerfeld: Elektrodynamik; Harri Deutsch Verlag 1977, ISBN 3 87144 374 3

[4]           H. Vogel: Gerthsen Physik; Springer Verlag 1999, ISBN 3-540-65479-8

[5]           E. Schmutzer: Grundlagen der Theoretischen Physik; Springer Verlag 1999, ISBN 3-411-03145-X

[6]           H. Hertz: Über die Grundgleichungen der Elektrodynamik für bewegte Körper; Göttinger Nachr. März 1890
                und Annalen der Physik Bd. 41, Ges. Werke, Bd. II, 2. Aufl. Leipzig 1894, S.256 - 285.

[7]           A.Waser: Über die Schreibweise der MAXWELL’schen Feldgleichungen

[8]           Th. Phipps Jr, On Hertz’s Invariant Form of Maxwell’s Equations; Physics Essays 6 /2 (1993) 249-256

[9]           G.W. Bruhn: Maxwell und die Quaternionen

[10]         H. Minkowski: Die Grundgleichungen für die elektromagnetischen Vorgänge in bewegten Körpern;
               Göttinger Nachr. 1908, S.53, Ges. Werke II, S.352